Gegenwind für den Radverkehr
Selten hat dem Radverkehr in Essen der Wind so heftig entgegen geblasen wie im vergangenen Jahr. Langjährige Fahrradaktivisten fühlten sich unvermittelt an die Zeit um die Jahrtausendwende herum zurückversetzt, als die CDU das Zepter übernahm.
Eine der ersten Amtshandlungen bestand in der Verbannung vieler damals in den Startlöchern stehender Radverkehrsprojekte zurück in die Schubladen. Zudem wurden einige bereits fertige Maßnahmen zurückgebaut (z.B. Fahrradstraße Lanfermannfähre, Schutzstreifen Schönebecker Straße und Wiedfeldstraße, Einfädelungshilfe des Radweg-Endes Aktienstraße).
Aktuell ist zu beobachten, dass sich vor allem die Berichterstattung in den Printmedien der Funke Mediengruppe verstärkt gegen Radverkehrsprojekte richtet. Hatte man sich noch vor einigen Jahren durchaus positiv beispielsweise über den Erfolg des Radentscheids ausgelassen, hat sich dies angesichts der Umsetzung erster Projekte ins Gegenteil verkehrt. Man hatte wohl nicht bedacht, dass die verstärkte Berücksichtigung des Radverkehrs angesichts der hohen Bebauungsdichte ausschließlich zulasten des Autoverkehrs erfolgen wird.
Bemerkenswerterweise richten sich die viele Berichte nicht unbedingt gegen die Radverkehrsprojekte als solche. Dies erfolgt viel subtiler, indem man die vermeintlich zu hohen Kosten in den Vordergrund stellt. Oder dass ausgerechnet für Radwege Bäume gefällt werden müssen. Ein Vergleich mit den deutlich höheren Kosten bei einem Straßenneubau erfolgt wohlweislich nicht, genauso wenig wie die wesentlich höhere Zahl an Bäumen, die dafür gefällt werden. Hauptsache in den Köpfen bleibt hängen: Radwege sind teuer, umweltfeindlich und somit unnütz.
Der ewige Streit um die „Rü“
Besonders krass war im letzten halben Jahr die Ereignisse inklusive der Berichterstattung rund um Rüttenscheider Straße („Rü“). Seit Stilllegung der Straßenbahn im Jahr 1986 tobt hier ein Kampf um die Flächenverteilung der einzelnen Verkehrsarten auf der Rüttenscheider Straße. Die um 1990 herum geschaffenen baulichen Fakten bevorzugten klar und deutlich den Autoverkehr. Zwar hat es zwischenzeitlich einige Ansätze gegeben, dieses Manko irgendwie zu beheben – allesamt ohne Erfolg.
Da musste angesichts der vor allem durch den Autoverkehr erzeugten schlechten Luftwerte erst die bundesweit agierende Deutsche Umwelthilfe (DUH) auf den Plan treten, um Essen endlich zum Handeln zu zwingen. In einem gerichtlichen Vergleich verständigte man sich auf verschiedene Maßnahmen zur Verringerung der Schadstoffemissionen – auch zugunsten des Radverkehrs. Mittels dreier als „Lead-City“ bezeichnete Radrouten sollte der Autoverkehr auf ein halbwegs vernünftiges Maß reduziert werden, u.a. durch die Umwidmung in Fahrradstraßen. Die Rüttenscheider Straße gehört zu einer dieser Routen. Seit 1995 ist sie auch Bestandteil des städtischen Hautradroutennetzes, ohne dass dies bislang irgendeine nennenswerte bauliche Berücksichtigung fand.
Anfang 2020 wurden in einer Bürgerversammlung im Rathaus entsprechende Planungen vorgestellt, die von vielen Bürgern positiv bewertet wurden, nicht aber von der der CDU nahestehenden Interessengemeinschaft Rüttenscheid (IGR), der Lobbyorganisation der Rüttenscheider Geschäftsleute und Gastronomen. Diese sorgte hinter den Kulissen dafür, dass die Pläne durch Oberbürgermeister Thomas Kufen wieder einkassiert wurden. Zwar hat die Stadt noch im gleichen Jahr die „Rü“ in eine Fahrradstraße umgewidmet, allerdings ohne nennenswerte flankierende Maßnahmen, so dass ganz im Sinne der IGR die eigentlich angestrebte Verringerung des Autoverkehrs faktisch ausgehebelt wurde. Zudem wurde (und wird) die durch Fahrradstraßen gesetzlich festgeschriebene Bevorrechtigung des Radverkehrs von den meisten Autofahrern konsequent ignoriert, genauso wie die vorgeschriebenen Seitenabstände beim Überholen.
Es zeichnete sich ab, dass die Stadt mit dieser Form der Missachtung des mit der DUH ausgehandelten Vergleichs nicht länger wird durchkommen können. Und so wurde Mitte 2024 der Öffentlichkeit in einer weiteren Bürgerversammlung ein überarbeitetes Konzept präsentiert, in welchem der Autoverkehr eine stärkere Berücksichtigung findet. Offenbar wollte man damit die „eierlegende Wollmilchsau“ neu erfinden, indem man das Maßnahmenpaket derartig verkompliziert hat, dass absehbar niemand wirklich damit zufriedengestellt sein konnte.
Die nun losbrechende mediale Berichterstattung vor allem der beiden Blätter der Funke-Mediengruppe glich beinahe schon einer Hetzkampagne gegen den angeblich so bevorzugten Radverkehr. Vor allem die Negativität assoziierende Wortschöpfung „Autoverdrängung“ wurde beständig eingesetzt. Immerhin haben sich das schwarzgrüne Ratsbündnis und auch Oberbürgermeister Kufen dieses Mal nicht mehr dem Vorhaben entgegengestellt und die Maßnahme letztlich umgesetzt. Dass dabei wie bereits angedeutet die Verkehrsführung speziell für Autofahrende äußerst kompliziert geworden ist, war halt der Preis dafür, dass man die ursprünglich wesentlich klarere Lösung aus 2020 partout nicht umgesetzt sehen wollte.
Von Beginn an war nach Einrichtung der geänderten Verkehrsführung häufig zu beobachten, dass die neuen Regelungen hinsichtlich der Abbiegezwänge und den Einfahrtverboten häufig missachtet wurden; ob nun mit Vorsatz oder aus Unachtsamkeit, sein einmal dahingestellt. Nach einer kurzen Karenzzeit sollten diese Vergehen nunmehr auch geahndet werden. Schließlich kann von Autofahrenden, welche im Besitz einer Fahrerlaubnis für das Führen mehrerer Tonnen schwerer Kfz sind, die Fähigkeiten erwartet werden, auch mit komplizierteren Verkehrsverhältnissen umgehen zu können.
Grenzenlose Unverfrorenheit
Dass nach nur wenigen Wochen das Einfahrtverbot für Autos von der Huyssenallee zur „Rü“ durch eine verwaltungsgerichtliche Verfügung wieder rückgängig gemacht werden musste, gilt nur für einen winzig kleinen Teilbereich der Gesamtmaßnahme, nämlich den Abschnitt bis zur Baumstraße, und dieses auch nur für Anlieger. Nun fehlt aktuell hinter der Einmündung der Baumstraße ein entsprechendes „Einfahrt verboten“-Schild für die „Rü“, so dass faktisch alle Fahrzeuge ungeniert durchfahren.
Kontrollen gibt es nicht, und in der Tat wäre es angesichts der unverändert hohen Fahrzeugdichte auch schwierig zu ermitteln, wer „Anlieger“ ist und wer nicht. Unglaubliches geschieht auch an der südlichen Einfahrt der „Rü“ in Höhe der Manfredstraße. Obgleich an dieser Stelle das Schild „Einfahrt verboten“ existiert, fährt hier nach längeren Beobachtungen des Autors dieser Zeilen jedes vierte Auto ungeniert durch, denn auch hier ist von den angekündigten Kontrollen nichts zu sehen. Die Unverfrorenheit bestimmter autofahrender Zeitgenossen scheint grenzenlos zu sein.
Letztlich sah sich auch die DUH genötigt, sich abermals öffentlich zu Wort zu melden. Ihr Bundesgeschäftsführer Jürgen Resch mahnte die Stadt an, die Begründung für derartige verkehrsrechtlichen Anordnungen nachzubessern, denn genau deswegen habe das Gericht besagtes Urteil so fällen müssen. Insgesamt müsse die Stadt Essen sich mehr anstrengen, um die Luftqualität in der Stadt zu verbessern, forderte die DUH. Ohne eine durchgängige Radinfrastruktur könne die Einhaltung der von der EU neu festgelegten Luftqualitätsrichtlinien aber nicht gelingen, und davon sei die Stadt weit entfernt. Die Rüttenscheider Straße als Fahrradstraße mit allen begleitenden Maßnahmen gehöre dazu. Der Radverkehr auf dieser Rad-Hauptroute und Fahrradachse müsse sicher, komfortabel und ohne Behinderungen durch den Kfz-Verkehr stattfinden können. Dies könne zum Beispiel durch eine Einbahnstraßenregelung erreicht werden, so Jürgen Resch.
Letztgenanntes ist eine uralte Forderung aus den 1980er Jahren, die allerdings genauso wie die oftmals gewünschte Sperrung der „Rü“ in ihrem mittleren Abschnitt zwischen Martinstraße und Rüttenscheider Stern bislang Wunschdenken geblieben ist. ADFC und Radentscheid, sind der DUH dankbar, dass sie so beharrlich bei der Stange geblieben ist, denn leider sind beide Verbände selber klageberechtigt. Ihnen bleibt lediglich, die in Berlin ansässige DUH mit entsprechend aktuellen Infos zu versorgen.
Jörg Brinkmann
Epilog: Erst nach Redaktionsschluss ist ein zweiter Gerichtsbeschluss gefällt worden, welcher wie beim ersten Urteil die Abbiegegebote aufhebt, dieses Mal am Rüttenscheider Stern. Und obwohl wie beim ersten Urteil der Beschluss nur eine vorläufige Wirkung besitzt, hat die Stadt erneut schon einen Tag später alle Schilder und Markierungen entfernen lassen, ohne Einspruch zu erheben bzw. das eigentliche Hauptverfahren abzuwarten. Scheinbar ist sie nicht gewillt, ihre verkehrsrechtlichen Anordnungen gerichtsfest nachzubessern. Die Printmedien der Funke Mediengruppe liefern Jubelberichte ab, die Autolobby hat obsiegt.